Wegners Holperstart und die angeblichen AfD-Stimmen
Ach, Berlin. Geht hier denn gar nichts glatt? Erst die Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl wegen gravierender Pannen. Dann der spektakuläre Koalitionswechsel der SPD-Landeschefin Franziska Giffey weg von Grünen und Linken hin zur CDU, samt Verzicht auf das Amt der Regierenden Bürgermeisterin. Und nun ein Drama um die Wahl ihres Nachfolgers mit einer ungeklärten Rolle der AfD. Die Hauptstadt steht vor komplizierten Zeiten. Mehrheiten wackeln, Wunden sind zu lecken. Von einem sauberen Neustart ist jedenfalls nicht die Rede.
Eigentlich wollte der CDU-Politiker Kai Wegner mit der satten Mehrheit der neuen schwarz-roten Koalition als Regierender Bürgermeister ins Rote Rathaus einziehen. An der Regierungszentrale standen am frühen Nachmittag schon die Schornsteinfeger zur Begrüßung bereit, ein traditionelles Spalier der Glücksbringer. Aber Wegner kam nicht. Denn es kam alles anders.
Ein Debakel für Wegner
Um 12.00 Uhr war das Abgeordnetenhaus zu Wegners Wahl zusammengekommen. Aber um 12.47 Uhr stand fest: Wegner war im ersten Wahlgang durchgefallen. Und zwar nicht nur knapp, sondern mit großem Abstand. Von den 159 Mandaten im Landesparlament haben CDU und SPD zusammen 86. Davon hätte Wegner eine absolute Mehrheit 80 gebraucht. Aber gerade einmal 71 Parlamentarier stimmten für ihn - 15 weniger als das rot-schwarze Lager hat. Ein Debakel.
Parlamentspräsidentin Cornelia Seibeld unterbrach die Sitzung für 30 Minuten, um den Fraktionen Zeit zu geben, sich zu sortieren. In einer Probeabstimmung sprachen sich in dieser Pause dem Vernehmen nach bei den Sozialdemokraten 32 Abgeordnete für Wegner aus und nur zwei gegen ihn. Bei der CDU soll Wegner sogar 100 Prozent bekommen haben. Doch in der geheimen Abstimmung im Plenum sah es dann wieder anders aus: Auch im zweiten Durchgang verfehlte Wegner die nötige Mehrheit, wenn auch diesmal knapper: 79 Ja- gegen 79 Nein-Stimmen. Beispiellos.
Wieder Sitzungsunterbrechung, und diesmal mit so viel Zeit, dass CDU und SPD schon einmal den Schwarzen Peter herumreichen konnten. «In der SPD gibt es offensichtlich viele, die die Wahl des Regierenden Bürgermeisters nutzen, um mit Franziska Giffey und Raed Saleh abzurechnen», sagte der Berliner CDU-Bundestagsabgeordnete Jan-Marco Luczak dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Giffey und ihr Co-Landeschef Saleh, die den Koalitionswechsel zur CDU eingefädelt hatten und damit auf erheblichen Widerstand in den eigenen Reihen getroffen waren.
«Ich bin sehr sicher, dass es aus den Reihen der CDU ist»
Ein SPD-Mitgliederentscheid hatte die Koalition mit der CDU nur knapp gebilligt. Und es lag nahe anzunehmen, dass einige Sozialdemokraten im Abgeordnetenhaus nicht mitzogen. Das allerdings wollte die SPD nicht auf sich sitzen lassen. Der SPD-Abgeordnete Orkan Özdemir sagte der dpa: «Ich bin sehr sicher, dass es aus den Reihen der CDU ist.» Es sei an der CDU und an Wegner, die Reihen zu schließen. Eine Theorie bei den Sozialdemokraten ging so: Es gebe noch offene Rechnungen in der CDU gegen Wegner, weil der bei der Besetzung von Spitzenposten altgediente Berliner Parteikollegen übergangen habe.
Die Grünen sahen zu dem Zeitpunkt schon einen «desaströsen Start» für die vorgesehene schwarz-rote Regierung. Weil ein dritter Wahlgang nur als «Notlösung» in der Landesverfassung vorgesehen sei, beantragten sie gemeinsam mit den Linken eine Vertagung der Sitzung. Doch CDU und SPD wollten es wissen: dritter Wahlgang.
Hat die AfD Wegner zum Bürgermeister gemacht?
Und wirklich: Um 16.43 Uhr war es soweit. Kai Wegner wurde mit 86 Stimmen bei 70 Nein-Stimmen tatsächlich doch noch zum neuen Regierungschef in der Hauptstadt gewählt. Aber nun hatte er ein neues Problem: Die AfD hatte per Pressemittelung wissen lassen, dass sie jetzt für den CDU-Mann stimme, aus «gesamtstädtischer Verantwortung». Ist also Wegner nur dank AfD-Stimmen Regierender Bürgermeister?
Mit Sicherheit wird man das kaum je dingfest machen können. Denn auch diesmal war die Abstimmung geheim, auch diesmal weiß niemand genau, wer wie votiert hat. AfD-Fraktionschefin Kristin Brinker trug zur Aufklärung nicht viel bei, wie viele ihrer Kollegen für Wegner gestimmt hatten: «Ich kann keine genaue Zahl sagen. Es war eine geheime Wahl. Es waren nicht alle Abgeordneten, es gab auch welche, die nicht für Wegner stimmen wollten.»
Zwischen Skandal und Finte
In den sozialen Netzwerken spalteten sich die Kommentatoren sofort in zwei Lager. Die einen nannten die AfD-Stimmen einen Skandal. Die anderen hielten die AfD-Mitteilung für eine Finte, um Wegners Wahl in Misskredit zu bekommen.
Der neue Regierungschef ließ sich erstmal nichts anmerken als Erleichterung. Er nahm die Wahl an und wurde sofort vereidigt. Um 16.45 Uhr war alles erledigt. Ganz allein saß Wegner minutenlang auf den für die Regierung vorgesehenen Plätzen im Parlament, während die Parlamentspräsidentin der scheidenden Regierungschefin Giffey und den Senatorinnen und Senatoren dankte.
Und nun? Die neue Regierung kann loslegen für die verbleibenden etwa drei Jahre der Legislatur. Aber das Duo Wegner-Giffey startet mit einer schweren Hypothek. In dieser wirren Wahl liegt der Keim des Misstrauens zwischen den beiden Regierungsparteien. Und in der ohnehin zerstrittenen SPD dürfte nach diesem Verlauf auch nicht unbedingt Harmonie ausbrechen, die Landesvorsitzenden Giffey und Saleh sehen gerupft aus. Der Linken-Abgeordnete Tobias Schulze twitterte sicher mit etwas Verbitterung, muss er doch nun in die Opposition, aber die Frage treibt jetzt viele um: «Chaostage im Abgeordnetenhaus. Wie soll so noch drei Jahre regiert werden?»
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