Ein Jahr nach dem Hochwasser: Wie Rudersberg wieder aufsteht
02.06.2025
Dort, wo Werner Diggelmann vor einem Jahr um sein Leben gekämpft hat, steht jetzt ein Kirmes-Schaukelpferd aus Holz. Früher war hier das Arbeitszimmer des 83-Jährigen. In einem Wandschrank bewahrte er seine Dia-Sammlung und seine Unterlagen auf - sauber geordnet, von der Steuer bis zu den Versicherungen. Jetzt ist der Raum frisch verputzt, er soll wieder belebt werden.
Als das Wasser am 2. Juni 2024 durch das Tal schoss, sich an der Brücke neben Diggelmanns Haus staute und schließlich durch die Fenster drängte, hatte der Rentner kaum eine Chance. Die Decke zum komplett überfluteten Keller brach ein, er wurde mit in die Fluten gerissen und erst im letzten Moment von seiner Frau aus den Wassermassen im Untergeschoss gezogen.
Zwei Rentner im Nachbarort Miedelsbach ertranken in ihrem überfluteten Keller. Auch in Oberschwaben schwollen die Zuflüsse von Bodensee und Donau an.
Ein Jahr ist das nun her. Ein Jahr, in dem Diggelmann, seine Nachbarn und das ganze Rudersberger Tal nordöstlich von Stuttgart versucht haben, Schlamm, Scherben und Schutt, aber auch die Erinnerungen an jene nächtlichen Stunden beiseite zu räumen. Ein Jahr, in dem sie geputzt und aufgebaut, sich getröstet, Mut gemacht, kritisiert – und zum Teil auch aufgegeben haben.
«Ich hatte den totalen Kontrollverlust»
«Viele sind stolz darauf, was sie in dieser Zeit geschafft haben», sagt der Rudersberger Metzger Werner Hinderer. «Bei anderen tut es weh. Und bei einigen ist auch Ärger dabei, weil es nicht so schnell geht, wie sie das wollen.» Seine Metzgerei hatte Hinderer damals gerade frisch renoviert, dann zog das Wasser durch und hinterließ einen Millionenschaden. «Ich hatte anfangs einen kompletten Kontrollverlust über meine Existenz», sagt der Unternehmer - und packte an.
«Rational war das Quatsch, es wäre meine Chance gewesen, mit 61 Jahren auszusteigen. Aber ich führe den Laden in siebter Generation, da habe ich auch eine Verantwortung.» Keine sechs Monate später wurde wieder Fleisch über die Theke verkauft, heute ist der Laden ein wichtiger Treffpunkt.
Zwischen Containern und Hoffnung
«Ein starkes Zeichen war das für den Ort», sagt Raimon Ahrens, der Bürgermeister der 11.700-Einwohner-Gemeinde im Rems-Murr-Kreis beim Spaziergang durch den Ort. Die Spuren jener Nacht sind auch ein Jahr später nicht zu übersehen. Hier sind noch Scheiben abgeklebt, dort zeugen helle Streifen auf dem Putz oder Schaufenster des Hauses vom Wasserstand in der Hochwasser-Nacht.
Volksbank und Kreissparkasse arbeiten weiter in Containern. Die Sparkasse will im Juli ins sanierte Geschäft zurück. Der Bäcker verkauft noch aus dem Wagen heraus – es hakt bei der Versicherung. Die Apotheke ist nach der Kernsanierung bereits weiter und hat geöffnet. Andere haben es nicht geschafft, der Schreibwarenladen, der Friseur, die Kneipe. Am Dachstuhl eines Fachwerkhauses in der Hauptstraße frisst gerade ein Bagger.
120 Millionen Euro – und jede Menge offener Wunden
«Vom Gefühl her hat sich viel getan seitdem», sagt Ahrens. «Aber es gibt auch ein Jahr danach noch allerhand zu tun.» Schule, Kindergarten, Gemeindehaus – alles war stark betroffen. «Von der Kläranlage bis zum Jugendhaus hat praktisch alles Schaden genommen», sagt er.
Die wenigen Stunden jener Nacht verursachten einen Schaden in Höhe von mehr als 120 Millionen Euro - eingerechnet kommunale Gebäude ebenso wie die beschädigten Flussläufe im Tal der Wieslauf sowie die Schäden von Gewerbetreibenden und privaten Haushalten. Auch die Wieslauftalbahn musste monatelang repariert werden, Landes- und Kreisstraßen rissen auf. Allein 1,2 Millionen Euro zahlte die Gemeinde zudem, um die Müllberge nach der Katastrophennacht abzutragen.
Ein Schutz für alle 100 Jahre – doch das war mehr
Die Stadt schätzt, dass rund 90 Prozent der Menschen in der Gemeinde eine Elementarschadenversicherung besitzen, die - anders als eine normale Gebäudeversicherung - auch bei Starkregen, Hochwasser oder anderen Naturgefahren greift. Grund ist die bis 1994 gültige landeseigene Versicherungspflicht.
«Bei Hausrat ist das allerdings nicht der Fall», sagt Hauptamtsleiter Achim Laidig. «Da braucht man ausdrücklich einen Zusatz - und den haben die meisten nicht.» Sie bleiben auf den Kosten sitzen - und müssen auch den Verlust ihrer oft im Keller gelagerten Erinnerungsstücke verkraften: Fotoalben, Antiquitäten, Erbstücke der Eltern.
Hochwasserschutz habe in Rudersberg immer eine Rolle gespielt, sagt Ahrens. Kurz vor jener Nacht sei auch der neue Damm eröffnet worden, der wahrscheinlich noch Schlimmeres verhindert habe. Man könne eine Gemeinde aber auch nur vor einem Hochwasser schützen, wie es im Durchschnitt alle 100 Jahre kommen könne. «Ein Ereignis wie das jüngste, das ein 5000-jähriges Hochwasser gewesen sein soll, da kann man sich nicht schützen. Sonst könnte man in diesem Tal nichts mehr aufbauen.»
Das Wasser ist weg – die Angst bleibt
So hat die Nacht, als das Wasser kam, seine Spuren im Ort hinterlassen. An Gebäuden, im Haushalt und in den Köpfen der Menschen. Es sei leider nur wenig geblieben vom Zusammenhalt, der Rudersberg nach der Katastrophe gestärkt habe, sagt Metzger Hinderer. Er will nun versuchen, eine Anlaufstelle für all diejenigen aufzubauen, die auch ein Jahr später noch mit der Bürokratie kämpfen.
Und Ahrens? «Wer die Nacht überstanden hat, dem wird sicher noch mulmig, wenn es mal wieder ein bisschen stärker regnet», sagt er. «Und ich greife schneller zum Handy und schaue auf die Wetter-Vorhersage.»
Auch Rentner Diggelmann hat eine Konsequenz gezogen: «Wir haben keinen Keller mehr. Den haben wir zubetoniert», sagt er. Und hat er mal überlegt, die Koffer zu packen und das Tal zu verlassen? «Nie», sagt er. «Finanziell ist das nicht machbar – und wir haben hier schon wieder viel erreicht.» Bald feiert Klaffenbach, der nordöstlichste Ortsteil von Rudersberg, ein Straßenfest – ein bisschen stolz vielleicht, ein wenig auch zum Mutmachen.
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