Vertrag von Lausanne: Friedensbringer oder Konfliktstoff?
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist nur selten zurückhaltend, wenn es um seine Version einer stärkeren Türkei geht.
Vor wenigen Monaten drohte der türkische Staatschef dem Nachbarn Griechenland mit einem plötzlichen Angriff auf Inseln in der Ägäis und führte ein nun 100-jähriges Abkommen an - den Vertrag von Lausanne. Die 1923 signierte Übereinkunft sollte Frieden garantieren. Doch Konflikte schwelen bis heute.
Der Inhalt des Vertrags
Der Vertrag war einer der Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg. Die türkische Nationalbewegung unter Führung des späteren Gründers der Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, war kurz zuvor als Sieger aus dem sogenannten «türkischen Befreiungskrieg» hervorgegangen.
«Der Krieg war auch ein Resultat des zuvor geschlossenen und von den Nationalisten scharf kritisierten Vertrags von Sèvres», sagt Türkei-Experte Salim Cevik. Darin waren nach dem Ende des Osmanischen Reiches die Grenzen der Türkei definiert worden.
Gestärkt durch ihren Triumph nehmen damals die türkischen Nationalisten am Verhandlungstisch mit den Siegermächten des Ersten Weltkrieges Platz und verhandeln ein deutlich größeres Staatsgebiet. Der Vertrag ist die faktische Anerkennung der Türkei als Staat, Istanbul wird aus britischer Besatzung gelöst, Griechenland verliert die Stadt Izmir an der Ägäis.
Der Vertrag besiegelt zudem die Zwangsumsiedlung von mehr als anderthalb Millionen Menschen. Ein Großteil der griechisch-orthodoxen Bevölkerung verlässt Anatolien und im Gegenzug etliche Muslime Griechenland. Bis heute feiern Atatürk-Anhänger den Vertrag als Verhandlungserfolg.
Unzufriedenheiten begleiten Vertrag
«Für die Gewinner des Ersten Weltkriegs, wie Frankreich und Großbritannien, bedeutete der Vertrag eine wichtige Kehrtwende», sagt der Analyst Ryan Gingeras. «Sowohl London als auch Paris hatten sich vorgestellt, dass der gesamte heutige Nahe Osten nach ihren Vorstellungen aufgeteilt werden würde.» Der Sieg der Türkei 1922 habe sie jedoch gezwungen, deutlich weniger zu akzeptieren, als sie ursprünglich geplant oder gehofft hätten.
Doch nicht nur die Siegermächte gingen mit weniger aus den Verhandlungen. Kurden war im Vertrag von Sèvres ein eigener Staat versprochen worden. Der fiel nun weg, Kurden wurden in Lausanne von Türken vertreten. Der Umgang mit Minderheiten gilt in der Türkei bis heute als kritisch.
Erst kürzlich kündigte die kurdische Dachorganisation Diakurd an, gegen Bestimmungen aus dem Vertrag angehen zu wollen. Das kurdische Volk sei in Lausanne «in Gefangenschaft genommen» worden, argumentiert der Verband. Sie wollen - wenn nötig - bis vor den Internationalen Gerichtshof ziehen.
Nutzen für Erdogan
Auch vielen Konservativen in der Türkei gilt der Vertrag als Schmach: In neo-osmanischer Manier argumentieren sie, dass ihr Land betrogen worden sei. An eben sie richtet sich auch Präsident Recep Tayyip Erdogan, wenn er das Vertragswerk anzweifelt.
Der Staatsführer nutzt den Vertrag, wie es ihm argumentativ beliebt, besonders im Konflikt um Inseln in der Ägäis. Mal ist es der Vertrag, der die Türkei benachteilige, mal hält Erdogan dessen Inhalte hoch, um Griechenland an den Pranger zu stellen.
Hintergrund ist, dass der Vertrag die Souveränität der Inseln festschreibt und etwa, dass Inseln wie Lesbos und Samos vor der türkischen Westküste demilitarisiert sein müssen. Griechenland hat dort bereits seit Beginn des Zypernkonflikts im Jahr 1974 Militär stationiert - zur Selbstverteidigung, wie Athen betont, weil die Türkei an ihrer Westküste zahlreiche Landungsboote stationiert habe.
Ankara argumentiert, wegen des Vertragsbruchs durch die Militarisierung könne Griechenland die Souveränität über die betreffenden Inseln verlieren. Gruppierungen in der Türkei fordern gar eine Aufhebung des Vertrags. Sinan Ülgen hält den Ansatz nicht für sinnvoll. «Das würde nicht bedeuten, dass man ihnen die Inseln überließe», so der Analyst vom Think-Tank Edam.
Dass der Vertrag tatsächlich neu verhandelt wird, gilt als unrealistisch. Er sei etwa im Hinblick auf die kurdische Frage im Sinne einer Assimilation verfasst, so Cevik. «Diese Ideologie muss sich ändern, aber das bedeutet nicht, dass der Vertrag geändert werden muss.»
Auch Ülgen meint: «Es ist nicht der Vertrag von Lausanne, der die Türkei daran hindert, demokratische Freiheiten zu stärken.» Den Namen Friedensvertrag verdiene das internationale Abkommen dennoch, findet Cevik: «Europäische Mächte erkannten den Sieg der türkischen Nationalisten an. Und das ist Frieden.»
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