Ukrainische Offensive setzt auf Abnutzung der Reserven
Gewaltige Explosionen haben den Südosten der seit 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim erschüttert. Nahe der Hafenstadt Feodossija brennt seit Tagen ein riesiges Munitionsdepot.
Die vier anliegenden Ortschaften mussten evakuiert werden. Während sich die Besatzungsbehörden offiziell zu den Ursachen in Schweigen hüllen, berichten russische Militärblogger, dass die Ukrainer das Arsenal mit Raketen in Brand geschossen haben.
Die Explosionen werden «noch lange andauern und nicht nur in dieser Anlage, denn wir haben die "Knall"-Saison angekündigt, wir setzen sie fort, wir sehen mit unverhohlener Freude zu, wie sie "blüht"», bestätigte die Sprecherin des ukrainischen Heereskommandos Süd, Natalja Humenjuk, indirekt Kiews Beteiligung daran. Spekuliert wird darüber, ob Kiew für die Attacke die britischen Storm Shadow Raketen oder den Eigenbau Hrim-2 eingesetzt hat.
Langsames Tempo
Der Angriff zielt auf die Logistik der russischen Truppen im Hinterland. Das angegriffene Munitionsdepot liegt mehr als 200 Kilometer von der Front entfernt. Dass Kiew rund sieben Wochen nach Beginn der ukrainischen Gegenoffensive jetzt wieder verstärkt auf dieses Element setzt, zeugt auch davon, dass es im Kampfgebiet nicht so rasch vorangeht, wie sich die ukrainische Führung und viele westliche Militärexperten das erhofft haben.
Seit Anfang Juni haben die Ukrainer laut Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar 210 Quadratkilometer eigenen Bodens befreit. Zum Vergleich: Russland hält einschließlich der Krim mehr als 100.000 Quadratkilometer ukrainischen Territoriums besetzt.
Bei diesem Tempo würde die Rückeroberung aller Gebiete mehr als 60 Jahre in Anspruch nehmen - und dabei hat Maljar die geringfügigen Geländegewinne, die die Russen gleichzeitig im Nordosten der Ukraine gemacht haben, wohl noch gar nicht gegengerechnet.
Minen gelten als Problem
Ausgebremst werden die Ukrainer durch ausgedehnte Minenfelder, die von Artillerie und gut verschanzter Infanterie bewacht werden. Das Gefechtsfeld leuchten Drohnen aus. Russische Hubschrauber schießen mit Raketen auf sich nähernde Panzerfahrzeuge.
Bilder von brennenden Panzerkolonnen zu Beginn der Offensive zeugten davon, dass Versuche, auf schnellem Gerät die Frontlinie zu durchstoßen, gescheitert sind. Nach Einschätzung westlicher Experten sollen bis zu 50 Prozent der gelieferten Leopard-2-Panzer beschädigt oder zerstört sein.
Wegen vieler Ausfälle von Technik in den ersten Wochen hat das ukrainische Militär die Taktik geändert und setzt nun auf kleine Infanterietrupps, die die Schützenpanzer quasi als Taxi bis zu den Minenfeldern nutzen. Dort sitzen sie ab, versuchen unter dem Schutz der eigenen Artillerie den Weg freizuräumen und sich in kleinen Sprüngen an die gegnerischen Linien heranzukämpfen. Fällt eine Gruppe aus, wird die nächste herangeführt.
Die Minen bleiben dabei ein großes Problem. Die Schwierigkeiten zeigte Ende Juni ein vom ukrainischen Militärkorrespondenten Jurij Butussow verbreitetes Drohnenvideo der 47. Brigade: Eine Gruppe von teils schon durch Minen verletzten Soldaten steckt auf offenem Feld fest. Ausgebrannte Schützenpanzer und schwarze Detonationsspuren sind zu sehen. Überlebende kriechen auf die rettende Ladeklappe eines Bradley-Schützenpanzers.
Das Video zeigt auch: Andere bleiben vorerst auf dem Feld zurück. Erneut fährt ein Bradley-Schützenpanzer heran, um beim Abtransport der Verwundeten zu helfen. Mehrere Minen explodieren. Ein Soldat verliert nach einem Sprung auf eine Mine sein rechtes Bein. Deutlich ist zu sehen, wie er schnell die Wunde abbindet. Die blutigen Reste seines Beines hinterherziehend rettet er sich in den Schützenpanzer.
Nach einem heftigen Sturm der Entrüstung in den sozialen Medien löschte Butussow das Video wieder. Doch hat es auch gezeigt, welche Opfer die Gegenoffensive den ukrainischen Soldaten abverlangt.
Der durch die Minenfelder erzwungene Stellungskrieg beraubt sie ihres größten Vorteils im Krieg: Beweglichkeit. Stattdessen gehen die Ukrainer langsam und methodisch vor. Artilleriefeuer auf ihre Infanteristen beantworten Kiews Streitkräfte mit dem Beschuss der dadurch aufgedeckten feindlichen Stellungen. Gegen einen ausgeruhten und gut ausgerüsteten Gegner hätte ein Frontalangriff wenig Aussicht auf Erfolg. Die Verteidiger sind im Vorteil.
Probleme auch auf russischer Seite
Doch die Russen haben ihre eigenen Probleme, angefangen bei der Führung. Kremlchef Wladimir Putin hat seinen Angriffskrieg vor 17 Monaten in völliger Selbstüberschätzung mit zu wenig Truppen begonnen. Nach den Niederlagen im Herbst war Moskau zu einer eiligen Teilmobilmachung gezwungen. Trotzdem ist die nach eigenem Bekunden «zweitstärkste Armee der Welt» an vielen Frontabschnitten in Unterzahl.
Zu einem Skandal führte die Klage von General Iwan Popow von der in Saporischschja kämpfenden 58. Armee: Den eigenen Truppen fehle es an Artillerieaufklärung und vor allem an Rotation, um abgekämpften Einheiten die Möglichkeit zur Erholung und Auffüllung zu geben. Als «Panikmacher» wurde er vom Generalstab gefeuert.
Doch selbst russische Militärbeobachter bestätigen Popows Kritik. Die Einheiten sind stark dezimiert und überlastet. Die Versorgung ist mangelhaft - auch weil die Nachschubwege immer wieder beschossen werden. Erst in den nächsten zwei bis drei Wochen wird sich herausstellen, welcher Seite zuerst die Reserven ausgehen. Gut möglich, dass den Ukrainern irgendwann die Kräfte schwinden.
Gelingt ihnen an einer Stelle der Durchbruch, ist ein tiefer Vorstoß möglich. Bisher haben sie Berichten zufolge nur knapp ein Drittel ihrer mit westlicher Technik ausgestatteten und im Westen trainierten Truppen in den Kampf geschickt.
Der scheidende US-amerikanische Generalstabschef Mark Milley veranschlagte für die Gegenoffensive ungefähr zehn Wochen. Damit sollte die ukrainische Armeeführung spätestens am Unabhängigkeitstag am 24. August Ergebnisse vorweisen können.
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