Psychiatrie-Patient geflohen: Tödlicher Messerangriff
Die tödliche Messerattacke auf eine Frau in Wiesloch, mutmaßlich von einem kriminellen Psychiatrie-Patienten begangen, muss aus Sicht der Opposition im Landtag aufgearbeitet werden. Ein Richter erließ derweil einen Unterbringungsbefehl gegen den Tatverdächtigen. Der 33-Jährige kam also statt in ein Gefängnis zur Untersuchungshaft wieder in das Psychiatrische Zentrum Nordbaden (PZN) in Wiesloch (Rhein-Neckar-Kreis). Nach Auskunft von Christian Oberbauer, Medizindirektor des Maßregelvollzugs am PZN, soll er möglichst bald in eine andere Einrichtung verlegt werden. Die Mitarbeitenden vor Ort seien zu betroffen von dem Geschehen.
Sozialminister Manne Lucha (Grüne) müsse dem Sozialausschuss Rede und Antwort stehen, wie es zur Flucht des Mannes mit den tragischen Folgen kommen konnte, sagte SPD-Gesundheitsexperte Florian Wahl am Sonntag. Ähnlich äußerte sich die sozialpolitische Sprecherin der AfD-Fraktion, Carola Wolle. Sie argumentierte mit öffentlichem Interesse, «da die Aufgabe des Maßregelvollzugs darin besteht, die Öffentlichkeit vor psychisch kranken Menschen zu schützen».
Der Beschuldigte war am Freitag aus dem PZN geflohen. Pflegekräfte hätten ihn und andere Patienten auf dem Weg in die Arbeitstherapie begleitet, als er spontan das Gelände verließ. Die Ermittler werfen dem Mann vor, anschließend in einem Geschäft in der Innenstadt eine 30-Jährige derart verletzt zu haben, dass sie im Krankenhaus starb.
Der Mann war den Angaben nach infolge eines Gerichtsurteils seit 2021 wegen mehrerer Delikte wie vorsätzliche Körperverletzung und Nötigung auf einer geschlossenen Rehabilitationsstation im PZN untergebracht. Das nennt man Maßregelvollzug. Dieser ist für Straftäter vorgesehen, die zum Beispiel psychisch krank oder süchtig sind. Das PZN teilte über den 33-Jährigen mit: «Wegen seiner seelischen Störung wurde gerichtlich die Schuldunfähigkeit des Mannes festgestellt.»
Er hatte die fünfte von neun Lockerungsstufen erreicht, sagte Oberbauer der Deutschen Presse-Agentur. Damit durfte er die Station in Begleitung verlassen. Entweichungen wie jene am Freitag gebe es im Schnitt fünfmal pro Jahr. «Aber so ein Ereignis haben wir noch nie gehabt», sagte der Chefarzt. «Das Ende ist katastrophal gewesen.» Alle in der Klinik zerbrechen sich seinen Angaben nach seither den Kopf. «Jeder ist erschüttert und fassungslos», sagte Oberbauer. Er habe weinende Oberärzte auf den Stationen gesehen. «Es ist ein Ereignis, das wir in keinster Weise vorhergesehen haben.»
Jede Entweichung werde nachgearbeitet, man habe einen Krisenstab eingerichtet. Als Sofortmaßnahme seien die Ausgänge auf den Stationen eingeschränkt worden. Das solle aber nicht auf Dauer so bleiben, sagte Oberbauer. Seinen Angaben zufolge wird wegen des Vorfalls nicht gegen das PZN oder einzelne Mitarbeitende ermittelt.
SPD-Politiker Wahl sagte in Bezug auf Minister Lucha: «Er muss vor den Abgeordneten und der Öffentlichkeit erklären, was passiert ist, wie was möglich war und welche Maßnahmen er ergriffen hat, um weitere Taten zu vermeiden.» Eine geforderte Sondersitzung könnte schon am Freitag stattfinden, teilte die SPD-Fraktion mit.
«Erst vor wenigen Wochen habe ich die Einrichtung in Wiesloch selbst besucht», sagte Wahl demnach. «Und ich habe die fatale bauliche Situation erlebt sowie den massiven Personal- und Platzmangel - gerade auch im Maßregelvollzug.» Minister Lucha wisse von diesen Zuständen seit Jahren und habe es nicht vermocht, die Situation zu entlasten. «Er ist nun in der Verantwortung lückenlos darlegen zu können, dass die chronische Unterfinanzierung der Psychiatrie, die seit Jahren nicht ausreichenden Plätze für den Maßregelvollzug nicht ursächlich waren für den schrecklichen Vorfall in Wiesloch.»
Auch AfD-Politikerin Wolle hinterfragte, welche Rolle Personal- und Platzmangel in der Einrichtung beim Tathergang spielten. Weiter monierte sie: «Dass der Täter erneut in einer psychiatrischen Klinik untergebracht wird und nicht in Untersuchungshaft sitzt, zeugt davon, dass auch die Justiz blind zu sein scheint für die unzureichende gesundheitliche Infrastruktur in Baden-Württemberg.»
Die gerichtlichen Zuweisungen in den Maßregelvollzug haben laut dem Ministerium in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. «Wir arbeiten entsprechend daran, die Kapazitäten auszuweiten und Plätze zu schaffen - und zwar schon seit langem», teilte ein Sprecher mit. Die Behandlungsplätze im Maßregelvollzug seien von Anfang 2017 bis Ende Juni 2023 um mehr als 42 Prozent auf 1468 erhöht worden.
Allein seit Mai 2021 seien die Kapazitäten an bestehenden Standorten etwa durch Verdichtung, Umnutzung, Sanierung und Modernisierung um 203 Plätze gesteigert worden, was der Größenordnung einer zusätzlichen Maßregelvollzugs-Klinik entspreche, hieß es. Zudem würden mit Neubauten in Wiesloch 54 Plätze sowie am Standort Calw 50 Plätze zusätzlich geschaffen, jeweils mit geplanter Inbetriebnahme 2024. Das ehemalige Gefängnis Fauler Pelz in Heidelberg wird seit August ebenfalls als Einrichtung für den Maßregelvollzug genutzt.
Der Justizexperte der SPD-Fraktion, Boris Weirauch, forderte von der Landesregierung auch eine Antwort darauf, warum die Bevölkerung nicht gewarnt worden sei. «Eine Warnung hätte die Menschen in Wiesloch sensibilisiert, stattdessen war man arglos der Gefahr ausgeliefert.»
Er kritisierte die Landesregierung zudem mit Verweis auf eine Vielzahl geflüchteter Menschen aus psychiatrischen Einrichtungen in den vergangenen Jahren. «Es war leider zu befürchten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis etwas Schlimmes passieren würde.»
Woher der Mann das Messer hatte, werde noch ermittelt, sagte ein Polizeisprecher am Samstag. Geklärt werden solle nach Möglichkeit auch, inwiefern sich der 33-Jährige und die Frau kannten. Ob sich der Tatverdächtige zu dem Geschehen geäußert hat, sagte der Sprecher nicht. Details dazu dürften erst in der neuen Woche bekanntwerden.
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