Para-Sportler und «weniger Behinderte»: «bockstarke Truppe»
Die Kleinwüchsigen sind die Behinderten. Aber die anderen sind nicht die Normalen. «Ich nenne sie immer 'Die weniger Behinderten'», sagt Peter Salzer lachend. Der 65-Jährige betreut beim VfB Stuttgart die inklusivste Trainingsgruppe Deutschlands. Fünf Behindertensportler und rund 20 nicht behinderte Leichtathleten dienen dort quasi als bundesweites Vorbild. Und das mit Erfolg. Bei der Para-WM in Paris gewann Yannis Fischer Gold im Kugelstoßen, der Weltrekordler und Paralympicssieger Niko Kappel Silber.
«Wir machen keinerlei Unterschiede», sagt der 21 Jahre alte Fischer, der mit 1,27 Meter noch mal 14 Zentimeter kleiner ist als sein kleinwüchsiger Kollege Kappel: «Aber das muss man ja auch nicht. Wozu auch?» Und auch Kappel schwärmt: «Wir sind eine bockstarke Truppe. Ein richtig großes Team mit einem ganz besonderen Flair. Und wir haben einen Haufen Spaß. Wir haben viel Scheiß im Kopf, ohne den Fokus zu verlieren.»
Auch Salzer ist stolz auf seine Truppe. «Es macht einen Riesenspaß. Der Teamspirit ist überragend.» Als Kappel 2014 als erster Para-Sportler zu der Gruppe stieß, gab es durchaus kritische Blicke. «Viele hatten vorher noch nie einen Kleinwüchsigen gesehen», sagt Salzer: «Und von Funktionärsseite hieß es: 'Es ist eine Belastung, wenn jetzt auch noch Behinderte bei euch mittrainieren.' Aber ich habe geantwortet: 'Im Gegenteil: Es ist eine Bereicherung.' Zwischen uns allen war da von Anfang an eine Selbstverständlichkeit.»
Und zwar insofern, als dass sich die Sportler nicht nur nicht stören. Sie bringen sich gegenseitig voran. «Wir sind Athleten, sie sind Athleten. Und Athleten können immer von anderen Athleten lernen», sagt Fischer. Und Kappel berichtet: «Wir trainieren viel zusammen. Machen Handy-Videos, schauen sie uns gemeinsam an und diskutieren viel. Es ist wirklich ein gegenseitiges Lernen.»
Natürlich sei nicht alles gleich. «Wir haben mehr Platz im Ring und einen anderen Hebel», sagt Kappel: «Aber die biomechanischen Gesetze zählen für uns alle. Wir stoßen alle dieselbe Technik. Und das Hauptmotto ist dasselbe: Hohe Abstoß-Geschwindigkeit gewinnt.»
Salzer bestätigt das. «Sie schauen alle gegenseitig aufeinander», sagt er: «Niko geht auf die Größeren zu. Und die weniger Behinderten schauen interessiert bei Niko zu.» Doch was können sie von ihm lernen? «Niko vermittelt das Explodierende», sagt Salzer: «Die großen Jungs sind meist etwas träger.» Außerdem sei Kappel professioneller in der Vermarktung: «Als Trainer ist es mir manchmal etwas zu viel. Aber grundsätzlich können sich die anderen da was abschauen.»
Umgekehrt seien die «weniger Behinderten» eine große Hilfe im Kraftraum. «Ich habe mich dem Thema auch vorsichtig nähern müssen. Ich hatte ja keine Erfahrung in dieser Hinsicht», sagt der Trainer: «Aber man kann tatsächlich im Kraftraum ähnlich belasten, auch wenn man kleinwüchsig ist. Heute gehen sie zusammen in den Kraftraum. Oft zehn Leute und mehr. Und geben sich gegenseitig Hilfestellung.»
Doch warum gibt es solche Gruppen nicht häufiger? «Es ist nicht in jeder Disziplin umsetzbar. Rollstuhlfahrer zum Beispiel würden bei uns nicht funktionieren», sagt Salzer: «Aber in vielen wäre es sicher möglich. Ich glaube, dass viele meiner Kollegen eine gewisse Scheu haben, mit Behinderten zu arbeiten. Warum kann ich nicht sagen. Ich weiß nur: Hier funktioniert es wunderbar.»
Auch Kappel wünscht sich Nachahmer. «Wir sind einzigartig in Deutschland. Und das macht mich eher traurig», sagt er: «Wir können doch im Para-Sport keine Parallelstruktur aufbauen zum Deutschen Leichtathletik-Verband. Die einzig sinnvolle Geschichte ist doch, es zu bündeln. Sowohl von den Ressourcen als auch vom Know-how her. Ich bin stolz auf uns in Stuttgart. Und ich denke, das sollte auch der Weg für viele andere sein.»
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