Krisen und kein Ende - Die erschöpfte Republik
Still ruht der Pool. Das schimmernde Türkis des Schwimmbeckens in der mediterranen Clubanlage sollte derzeit eine geradezu therapeutische Wirkung auf Millionen Urlauberseelen ausüben. Wer all-inclusive gebucht hat, bekommt beim Einchecken ein farbiges Bändchen ums Handgelenk und kann für die Dauer des Aufenthalts beliebig viel essen und trinken. Endlich mal kein Blick auf die Preise. Wenn dann allerdings infolge von Waldbränden eine Feuerwand auf die Anlage zurollt, ist es mit den paradiesischen Zuständen vorbei. Eine Rhodos-Urlauberin klagt im Fernsehen: «Wir haben uns darauf verlassen, dass alles gut ist.» Genau das scheint nicht mehr möglich zu sein.
Forscher sehen die Nation derzeit in einem Zustand akuter Erschöpfung. «Wir erkennen jetzt erst im vollen Umfang, wie ungeheuer kräftezehrend die drei Corona-Jahre gewesen sind», sagt der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann, der kürzlich die Trendstudie «Jugend in Deutschland» mitveröffentlicht hat. Nach der Pandemie hätte man unbedingt erstmal eine längere Erholungsphase gebraucht.
Eine Krise löst die andere ab
Doch stattdessen wurde Corona unmittelbar von dem nicht enden wollenden Krieg Russlands gegen die Ukraine abgelöst, verbunden mit Inflation und starken Fluchtbewegungen. «Dadurch flammt das Ohnmachtsgefühl der Corona-Krise wieder auf», sagt Hurrelmann. Der beherrschende Eindruck ist: Immer wieder kommt etwas dazwischen, das man selbst nicht beeinflussen kann. «Dadurch leidet gleichsam die ganze Gesellschaft an einer posttraumatischen Belastungsstörung», konstatiert Hurrelmann.
Ähnlich sieht es der Psychologe Winfried Rief von der Universität Marburg. «Ich habe so etwas in meinem ganzen Leben - und ich bin jetzt 64 - noch nicht mitgemacht», sagt er. «Was es so schwierig macht, ist, dass wir auf der psychologischen Ressourcenseite mittlerweile extrem schwach sind. Wir haben in den letzten Jahren mit Corona eine lebensgefährliche Bedrohung mitgemacht und uns davon eigentlich nicht mehr erholt. Die Themen haben sich geändert, aber der Bedrohungszustand ist geblieben.»
Rückzug ins Private
Nach einer repräsentativen Studie des Rheingold-Instituts mit 1000 Befragten und 35 tiefenpsychologischen Interviews ziehen sich die Deutschen als Reaktion auf die Krisenkaskade mehr und mehr ins Private zurück. Demnach dominiert ein «diffuses Grundgefühl der Bedrohung und Endzeitstimmung». Um sich selbst zu schützen, verengen die Menschen ihren Fokus auf die persönliche Lebenswelt. «Das ist, als würde ein Verdrängungsvorhang heruntergelassen», sagt Institutsleiter und Bestsellerautor Stephan Grünewald («Wie tickt Deutschland?») der Deutschen Presse-Agentur.
Natürlich hat es früher auch Krisen gegeben. Aber die derzeitige Situation unterscheidet sich davon in zwei zentralen Punkten fundamental: Erstens ist die aktuelle Überlagerung verschiedenster Miseren in der bundesdeutschen Geschichte ohne Beispiel. Zweitens ist diesmal kein Licht am Ende des Tunnels in Sicht. Das gilt für den Ukraine-Krieg und erst recht für den Klimawandel. Eine repräsentative Studie der Tui-Stiftung ergab dieses Jahr: Von 7000 befragten 16- bis 26-Jährigen in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland und Polen glauben nur 22 Prozent, dass es ihnen einmal besser gehen wird als ihren Eltern.
Vor allem eine Profiteurin
Dieser «perfekte Sturm» wirbelt auch die Politik durcheinander. Die AfD klimmt in den Umfragen immer höher, eine Insa-Umfrage sieht sie bereits bei 22 Prozent. Im ZDF-Politbarometer bewegt sich von den wichtigsten Politikern und Politikerinnen praktisch nur noch Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) mit einem Zustimmungswert von 1,9 auf einer Skala von +5 bis -5 klar im positiven Bereich. Alle anderen liegen um null oder darunter. «In Merkel-Zeiten hatte die Kanzlerin oft einen Wert von 2,4, und sechs, sieben andere Politiker waren zwischen 0,5 und 1,5 im positiven Bereich», sagt Rief.
Eine der Botschaften, die Angela Merkel während ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft unterschwellig vermittelte, war: «Lehnt euch zurück, ich mach das für euch!» Mit diesem Beruhigungsversprechen fing sie viele Ängste auf. Ihr Abgang habe in der deutschen Politik ein entsprechendes Vakuum hinterlassen, analysiert Hurrelmann. Die Ampel versuche zwar stets, die großen Herausforderungen rational anzugehen, verhebe sich aber immer wieder und verbreite insbesondere durch internen Streit eine fatale Außenwirkung. «Dadurch, dass sich SPD, FDP und Grüne oft gegenseitig zu blockieren scheinen, wird die Regierung als planlos und machtlos wahrgenommen - was die Ohnmachtsgefühle vieler Bürger noch steigert.»
So schön einfache Antworten
An dieser Stelle komme die AfD als vermeintliche Kümmerer-Partei ins Spiel. «Sie greift die Krisenstimmung auf und verbreitet die Botschaft: "Jetzt reicht's aber mal!"» Die Partei biete Scheinlösungen für die Krisen an, indem sie deren Existenz weitgehend leugne: «Corona? War in Wahrheit halb so schlimm. Der Klimawandel? Muss man mit leben. Der Krieg? Einfach mal mit Putin reden.» Diese angenehm einfachen Antworten entsprächen genau der Gefühlslage einer erschöpften und verunsicherten Gesellschaft, weil sie emotional entlastend wirkten, glaubt Hurrelmann. Der Psychologe Grünewald spricht von einer «trotzigen Erlösungshoffnung», von der die AfD profitiere.
Was muss nun geschehen, um dem entgegenzuwirken? Rief fordert, wieder mehr gemeinsame, positive Ziel zu definieren und weniger mit Verboten und Schuldzuweisungen zu arbeiten. «Wir reden zum Beispiel oft über die "Klima-Wende". Dieser Begriff impliziert, dass ich mich komplett ändern und eine 180-Grad-Drehung machen muss. Das ist einfach zu radikal. Wir müssen uns verändern, aber wir müssen dabei einen gemeinsamen Weg gehen. Wir brauchen mehr Wir-Gefühl», lautet der Appell des Psychologen.
Setzen auf kreative Energien
Hurrelmann betont insbesondere, dass die Regierung den Bürgerinnen und Bürgern bei der Umsetzung des gemeinsamen Ziels Klimaschutz mehr eigenen Spielraum lassen müsse. Anstatt bis ins Detail vorzuschreiben, wie die Energiewende umzusetzen ist, sollte die Ampel kreative Energien in der Bevölkerung freisetzen.
Daran knüpft auch Grünewald an: «Es gibt eine subtile Bereitschaft, mitzumachen», ist seine Überzeugung. Aber: «Das braucht Bilder, das braucht große Erzählungen.» Interessanterweise sei dies im vergangenen Jahr bei der Energiekrise gelungen, weil dabei jeder das Gefühl gehabt habe: Das ist nicht abstrakt, das betrifft meinen Alltag, dazu kann ich einen Beitrag leisten. Im Ergebnis verbrauchten die deutschen Haushalte dann 21 Prozent weniger Gas. «Da hätte man ganz anders belobigen müssen», findet Grünewald. «Da hätte man sich gegenseitig feiern und auf die Schulter klopfen müssen für diese kollektive Großtat.»
Um nach der Sommerpause eine Aufbruchsstimmung zu erzeugen, regt Hurrelmann eine Volksbefragung zu Klimaschutz und Heizungsgesetz an. «Wenn sich dann eine Mehrheit dafür aussprechen würde, wäre da ein Pflock eingerammt und die Regierung könnte sagen: "Die Bevölkerung hat jetzt die Richtung vorgegeben und mehrheitlich entschieden, dass das Gebäudeenergiegesetz aus den und den Bausteinen bestehen soll."» Ohne ein solches Signal befürchtet der Sozialforscher, dass sich die derzeitige Stimmung verfestigt: «In den nächsten drei Monaten muss die Regierung auf jeden Fall etwas machen - sonst rutscht das weg.»
© dpa-infocom, dpa:230731-99-623463/2