Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage
Nach den jüngsten russischen Raketenangriffen auf Wohnhäuser in der Stadt Uman hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mehr Waffen zum Schutz des Landes gefordert. «Flugabwehr, eine moderne Luftwaffe, ohne die eine effektive Luftraumverteidigung unmöglich ist, Artillerie, gepanzerte Fahrzeuge. Alles, was notwendig ist, um unseren Städten, unseren Dörfern Sicherheit zu bieten, sowohl im Hinterland als auch an der Front», sagte der 45-Jährige in seiner täglichen Videoansprache.
Selenskyj erinnerte in seiner Rede daran, dass durch den russischen Raketenangriff in der Stadt Uman mindestens 23 Menschen, darunter 4 Kinder, ums Leben gekommen seien. Auch im Gebiet Dnipropetrowsk seien eine Mutter und ihre dreijährige Tochter durch russischen Beschuss getötet worden.
Am Freitagmorgen war eine russische Rakete in ein Hochhaus in Uman eingeschlagen. In dem zerstörten Teil des Hauses waren 109 Menschen registriert, hieß es. 27 Wohnungen seien komplett zerstört worden. Dutzende Autos auf der Straße wurden demnach durch Trümmer beschädigt. In den Trümmern wurde weiter nach Menschen gesucht.
Nach Angaben Selenskyjs verhinderte die ukrainische Flugabwehr eine weit höhere Anzahl ziviler Opfer, indem sie 21 von 23 Raketen abfing. «Nur das absolut Böse kann einen solchen Terror gegen die Ukraine entfesseln», sagte der Präsident. Er sei froh, dass Einigkeit bezüglich einer Bestrafung der Verantwortlichen in Europa herrsche. Die Europäische Union hatte die jüngsten Raketenangriffe Russlands auf zivile Infrastruktur in der Ukraine als Kriegsverbrechen verurteilt.
In Moskau legten einige Bürger zum Gedenken an die Opfer in Uman Blumen an einem Denkmal nieder. «Am Denkmal Lesja Ukrainka in Moskau, wohin Blumen zum Andenken an die gestorbenen Ukrainer gebracht wurden, sind Polizisten aufgetaucht», berichtete das unabhängige Internetportal Astra in der Nacht zum Samstag. Die Polizisten hätten die Blumen später weggeräumt und die Trauernden aufgefordert, «in die Ukraine abzuhauen», berichtete das Portal unter Berufung auf Augenzeugen.
Gouverneur: Treibstofftank auf Krim in Brand
Auf der von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim ist in der Hafenstadt Sewastopol ein Treibstofftank in Brand geraten - vermutlich durch einen Drohnenangriff. Das schrieb Gouverneur Michail Raswoschajew am Samstag auf Telegram. Es handle sich um einen Brand der Alarmstufe vier - «der schwersten von allen möglichen», schrieb der Gouverneur. Demnach brennt eine Fläche von 1000 Quadratmetern. Zivile Einrichtungen seien nicht bedroht. Angaben zu Verletzten gab es zunächst nicht.
Derzeit seien 18 Löschzüge im Einsatz. Die Eindämmung des Feuers könne wegen der Größe noch viele Stunden dauern, schrieb Raswoschajew später. «Der Brand wirkt sich nicht auf die Treibstoffversorgung von Sewastopol aus. Diese Reserven wurden nicht für die Lieferungen an die Tankstellen genutzt.» Die Aussage Raswoschajews lässt darauf schließen, dass es sich um ein militärisch genutztes Treibstofflager handelt.
Nach Angaben des ukrainischen Militärgeheimdienstes wurden zehn Öltanks zerstört. «Ihr Gesamtvolumen beträgt etwa 40.000 Tonnen», sagte Behördensprecher Andrij Jussow. «Das ist Gottes Strafe speziell für die getöteten Bürger in Uman, unter denen fünf Kinder sind», sagte er Bezug nehmend auf einen russischen Raketenangriff in der Nacht zuvor.
Die Ukraine hat mehrfach angekündigt, die 2014 annektierte Krim von russischer Besatzung zu befreien. In verschiedenen Teilen der Halbinsel kommt es im Zuge von Russlands Angriffskrieg gegen das Nachbarland zu Zwischenfällen mit Drohnen, teils mit schweren Schäden, Verletzten und auch Toten. Russland sieht sich gezwungen, den militärischen Aufwand zur Verteidigung der Krim deutlich zu erhöhen.
London: Neue russische Strategie hinter Angriffen
Hinter den jüngsten russischen Raketenangriffen steckt nach Einschätzung britischer Geheimdienste eine neue Strategie. Es sei unwahrscheinlich, dass Russland mit der Angriffswelle am Freitagmorgen, bei der mindestens 25 Menschen getötet worden seien, wie zuvor Infrastruktur zerstören wollte, teilte das Verteidigungsministerium in London am Samstag mit.
Es bestehe die realistische Möglichkeit, dass Russland versucht habe, ukrainische Reserveeinheiten sowie Militärgüter anzugreifen, die kürzlich an die Ukraine geliefert wurden. Dabei betreibe Russland einen «ineffizienten Zielprozess» und nehme zivile Opfer zugunsten einer angenommenen militärischen Notwendigkeit in Kauf.
Wagner-Chef klagt über hohe Verluste
Der Chef der russischen Söldnereinheit Wagner, Jewgeni Prigoschin, hat wegen der hohen Verluste aufgrund mangelnder Versorgung mit dem Abzug seiner Truppen aus der umkämpften Stadt Bachmut in der Ukraine gedroht. «Jeden Tag haben wir stapelweise tausend Leichen, die wir in den Sarg packen und nach Hause schicken», sagte Prigoschin in einem am Samstag veröffentlichten Interview mit dem russischen Militärblogger Semjon Pegow. Die Verluste seien wegen der fehlenden Artilleriemunition fünfmal so hoch wie nötig, klagte er.
Er habe einen Brief an Verteidigungsminister Sergej Schoigu verfasst, um schnellstens Nachschub zu erhalten. «Wird das Munitionsdefizit nicht aufgefüllt, sind wir gezwungen - um nicht nachher wie feige Ratten zu rennen - uns entweder organisiert zurück zu ziehen oder zu sterben», sagte der 61-Jährige. Vermutlich sei er gezwungen, einen Teil seiner Truppen abzuziehen, doch das würde dann dazu führen, dass die Front auch an anderen Stellen einbreche, warnte er.
EU-Kommission: Streit über Agrarimporte beigelegt
Derweil verkündete die EU-Kommission in dem Streit über Agrarimporte aus der Ukraine eine Einigung mit mehreren osteuropäischen Staaten. Man habe dabei Anliegen von Bauern in mehreren EU-Nachbarstaaten und der Ukraine selbst berücksichtigt, schrieb Kommissionsvizepräsident Valdis Dombrovskis am Freitag auf Twitter. Polen, Bulgarien, die Slowakei und Ungarn werden demnach ihre Gegenmaßnahmen aufheben. Im Gegenzug werde es für Weizen, Mais, Raps und Sonnenblumenkerne «außergewöhnliche Schutzmaßnahmen» geben. Einzelheiten nannte er nicht.
Zuvor hatten sich die EU-Mitgliedstaaten am Freitag darauf geeinigt, die Zölle für ein weiteres Jahr auszusetzen. Damit soll die ukrainische Wirtschaft gestärkt werden, wie die schwedische Ratspräsidentschaft mitteilte. Der Ausschuss der ständigen Vertreter der EU-Länder habe seine Unterstützung signalisiert. Ob alle Länder die Entscheidung begrüßten, blieb unklar - für einen endgültigen Beschluss braucht es aber keine Einstimmigkeit.
In der Ukraine stieß die Einigung auf Zustimmung. Eine Blockade ukrainischer Importe würde nicht nur der Ukraine schaden, sondern auch dem Nahen Osten und Afrika großes Leid zufügen, sagte der Finanzminister Serhiy Marchenko bei einem Treffen der EU-Finanzminister am Samstag in Stockholm.
Tote bei Artilleriebeschuss von ostukrainischem Donezk
Derweil klagt nicht nur Kiew, sondern auch die russische Seite über tote Zivilisten durch Artilleriebeschuss. In der von Russland kontrollierten ostukrainischen Großstadt Donezk wurden durch Beschuss mehrere Menschen getötet und verletzt. Nach Angaben der örtlichen Behörden am Freitag gab es 9 Tote und 16 Verletzte. Unter anderem sei ein Sammeltaxi durch den ukrainischen Raketenbeschuss in Brand geraten und völlig ausgebrannt. Kiew dementiert regelmäßig Angriffe auf zivile Objekte. Informationen aus dem Kriegsgebiet lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Putin zeichnet neue Höchststrafen für Landesverrat ab
Russlands Präsident Wladimir Putin unterzeichnete Gesetzesverschärfungen für Hochverrat, Sabotage und Terrorismus. Für Hochverrat wird die Strafe damit etwa auf lebenslänglich heraufgesetzt, wie aus dem am Freitag veröffentlichten Gesetzestext hervorgeht. Zuletzt wurde Kremlkritiker Wladimir Kara-Mursa von einem russischen Gericht unter anderem wegen angeblichen Hochverrats zu einer Gefängnisstrafe von 25 Jahren verurteilt.
Das russische Parlament, die Staatsduma, hatte vor zehn Tagen die entsprechenden Gesetze verabschiedet. Neben der lebenslänglichen Strafe für Hochverrat wurden auch die Haftzeiten für andere Straftaten teilweise deutlich angehoben. Für Sabotageakte wird die Höchststrafe von 15 auf 20 Jahre hochgesetzt. Zahlreichen Kriegsgegnern, die Wehrkreisämter angezündet oder Schienen beschädigt hatten, um den Transport von Rüstungsgütern zu verhindern, wird damit der Prozess gemacht. Die Höchststrafe für «internationalen Terrorismus» wird von 10 auf 12 Jahre hochgesetzt, für Beihilfe in solch einem Fall die Mindeststrafe von 5 auf 7 Jahre.
Tschechiens Präsident Pavel besucht Dnipro
Der neue tschechische Präsident Petr Pavel hat am zweiten Tag seiner Ukraine-Reise die zentrale Millionenstadt Dnipro besucht. Dort sprach er mit örtlichen Vertretern über die Wiederaufbaupläne für die Region, wie mitreisende Journalisten berichteten. «Wir sollten dies als eine Chance zur Zusammenarbeit verstehen, nicht als einseitige Hilfe», betonte der 61-Jährige demnach. Eine Gemeinsamkeit sei, dass sowohl die Region Dnipropetrowsk als auch Tschechien stark industriell geprägt seien. Dnipro liegt knapp 400 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Kiew.
Pavel besuchte in der Stadt den Ort, an dem im Januar eine russische Rakete in einen Wohnblock eingeschlagen war. Er verurteilte die «barbarische Ermordung von Zivilisten» durch Russland. Bei dem Angriff waren mindestens 45 Menschen getötet worden.
© dpa-infocom, dpa:230429-99-495962/8