Im Dorf Talaat N'Yakoub suchen Helfer fieberhaft nach Vermissten., © Khaled Nasraoui/dpa
Im Dorf Talaat N'Yakoub suchen Helfer fieberhaft nach Vermissten. Khaled Nasraoui/dpa, dpa
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Kaum noch Hoffnung auf Überlebende nach Erdbeben in Marokko

11.09.2023

«Atifa! Atifa?», rufen sie immer wieder. Doch die Frau antwortet nicht. Am Montag, drei Tage nach dem schweren Erdbeben in Marokko, gehen die Rettungsarbeiten weiter. Im Dorf Talaat N'Yakoub suchen Helfer fieberhaft nach Vermissten. Unter einem Haus, dessen Fassade beinahe waagerecht auf den Trümmern liegt, ist Atifa verschüttet.

Mit aller Kraft drückt ein Helfer den Bolzenschneider zu. Endlich löst sich ein Metallstück und damit ein störender Betonbrocken. Die Helfer kommen der Verschütteten näher. Dann die Gewissheit: Sie ist tot. Sie habe Sand im Gesicht und auch in der Nase gehabt, berichten die Retter. Womöglich sei sie erstickt.

Eine Straße weiter ein ähnliches Bild. Retter arbeiten in der sengenden Sonne daran, die Leiche eines 24-Jährigen zu bergen. Sein Bruder steht fassungslos vor dem Schutthaufen des Familienhauses.

Zeitfenster schließt sich

Viele weitere Menschen liegen in dem Ort noch unter den Trümmern. In der Luft liegt ein süßlich-beißender Geruch der toten Verschütteten. Mehr als 300 Menschen sind den Einsatzkräften zufolge im Dorf getötet worden. Ob es eine Chance gibt, noch Überlebende zu finden? Eine Helferin des Roten Halbmonds in Marokko schaut sehr skeptisch.

Experten zufolge können Menschen höchstens 72 Stunden ohne Wasser auskommen. Das Zeitfenster schließt sich. Das Beben der Stärke 6,8 ereignete sich am späten Freitagabend (Ortszeit). Bis Montagnachmittag wurden laut des marokkanischen Innenministeriums 2681 Tote im gesamten Katastrophengebiet gemeldet.

Ein paar Menschen, die in der Region aus den Trümmern gerettet werden konnten, werden in Talaat N'Yakoub in einem provisorischen Krankenlager behandelt. Erschöpft, bandagiert und überzogen mit Blutergüssen liegen sie auf Tragen im Freien. Die Schwerverletzten sollen bald weiter in richtige Krankenhäuser gebracht werden, sagt einer der behandelnden Ärzte, Achref Berbich, der Deutschen Presse-Agentur.

Auch hier in Talaat N'Yakoub, das rund zweieinhalb Fahrtstunden südlich von Marrakesch liegt, stehen nur noch wenige Gebäude - und die meisten von ihnen schief. Anwohner führen Journalisten und private Helfer über riesige Trümmerberge. Kabel hängen und liegen quer über dem Boden.

«So was habe ich noch nie gesehen», sagt Helfer Hassan Ameskao. Der 30-Jährige stammt aus einem Ort nahe Marrakesch und ist auf eigene Faust in der Gegend unterwegs, um Lebensmittel und Wasser zu verteilen. Zusammen mit Verwandten und Bekannten habe er dafür Spenden gesammelt. Das Beben war das schlimmste in dem Land seit Jahrzehnten. Dabei wurden auch mindestens 2501 Menschen verletzt, wie das marokkanische Innenministerium am Montagnachmittag mitteilt.

«Brauchen dringend mehr Rettungskräfte»

An den Straßenrändern türmen sich riesige Steine und Brocken, die Bagger nach und nach von der Fahrbahn räumen. Viele Autos, die die Straßen passieren, sind voll bepackt mit Hilfsgütern. Bis zum Dach - und mitunter auch darauf - haben die privaten Helfer Lebensmittel, Matratzen und Decken gestapelt.

«Wir brauchen dringend mehr Rettungskräfte hier», betont Ameskao, der eigentlich als Lehrer arbeitet. Viele Orte seien noch immer von der Außenwelt abgeschnitten. Deutschland hat Marokko am Montag erneut Unterstützung angeboten. Bereits am Samstag gab es ein Angebot der Bundesregierung, mit dem Technischen Hilfswerk (THW) bei der Bergung von Verletzten und Toten zu helfen. Die Regierung in Rabat hatte daran jedoch kein Interesse gezeigt.

Gegen Mittag gelingt es den Einsatzkräften in Talaat N'Yakoub schließlich, Atifa zu befreien. Ihren toten Körper tragen die Helfer zu einem Leichentransporter.

© dpa-infocom, dpa:230911-99-154730/4