Justizreform vertieft Spaltung der israelischen Gesellschaft
Durch Israels Gesellschaft verläuft ein tiefer Riss - und die von der Regierung vorangetriebene Schwächung der Justiz macht ihn nun noch sichtbarer. Der Streit schwelt dabei schon seit Jahrzehnten. Er dreht sich nach den Worten von Shuki Friedman vom Jewish People Policy Institute (JPPII) vor allem um eine Frage: «Wie soll das Land in der Zukunft aussehen?»
Viele säkulare Israelis befürchten, dass die Justizreform ihr Land in einen religiösen Staat verwandeln könnte, wie der Rechtsprofessor erläutert. Sie sehen in dem Vorhaben eine Gefahr für Israels Demokratie, manche warnen sogar vor der Einführung einer Diktatur. Seit Monaten demonstrieren deshalb immer wieder Zehntausende gegen die Justizreform, die nun zu Wochenbeginn teilweise vom Parlament gebilligt wurde.
Viele Gegner der rechts-religiösen Regierung von Benjamin Netanjahu stammen nach Angaben des JPPII-Vizepräsidenten Friedman zufolge aus der Mittel- und Oberschicht. Das Oberste Gericht, das nun an Macht einbüßen soll, betrachten sie als Garanten der Menschen- und Bürgerrechte, betont auch der Verfassungsrechtler Barak Medina von der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Was sagen die Befürworter der Reform?
Viele Befürworter der Justizreform sehen im Obersten Gericht dagegen eine Institution der «linken» Elite, von der sie sich oft gegängelt fühlen. «Diese Gruppe möchte größere Privilegien über Nichtjuden und präferiert die Stärkung religiöser Werte», sagt der Wissenschaftler Medina. Die Reform-Befürworter sprechen sich nach seinen Worten auch überwiegend für die Diskriminierung von Frauen, queeren Menschen und Arabern aus. Das Oberste Gericht stehe jedoch - im Einklang mit den Gesetzen des Landes - für die Gleichheit aller Bürger und liberale Werte ein. «Viele Anhänger der Regierung befürworten aber eine illiberale Demokratie nach dem Vorbild Polens oder Ungarns», sagt Medina.
Einige Strengreligiöse behaupten nach Angaben des Rechtsprofessors Friedman zudem, Israel verliere wegen der richterlichen Entscheidungen seine jüdische Identität. Ultraorthodoxe Koalitionsmitglieder wollen etwa ein Gesetz durchsetzen, das ihre Männer de facto vom Wehrdienst befreien würde. Das Oberste Gericht hält dies jedoch für diskriminierend. Die Ultraorthodoxen empfinden den Militärdienst als Bedrohung ihres frommen Lebensstils, auch weil Frauen und Männer gemeinsam dienen. In Israel müssen alle Männer zwei Jahre und acht Monate Wehrdienst ableisten, Frauen zwei Jahre.
Rechte Hardliner stören sich zudem daran, dass das Oberste Gericht immer wieder den Siedlungsbau im besetzten Westjordanland einschränkt, wie der JPPII-Vizepräsident sagt. Rechtsextreme Mitglieder der Koalition pochen darauf, dass der Staat Teile des Westjordanlands annektiert. In Israel regiert derzeit die am weitesten rechts stehende Koalition, die das Land jemals hatte.
Wie sieht das politische Bild in Israel aus?
Israel ist in den vergangenen Jahrzehnten nach rechts gerückt. Nach Angaben des Israel Democracy Instituts (IDI) bezeichnen sich heute etwa 62 Prozent der jüdischen Israelis als rechts, vor allem unter den 18- bis 34-Jährigen sei die Zahl hoch.
Ein Grund dafür ist die Demografie: Die ultraorthodoxe Gemeinschaft ist aufgrund ihres Kinderreichtums die am schnellsten wachsende Gruppe im Land. Derzeit stellen sie rund 13 Prozent der Einwohner, bis 2065 könnten sie laut Schätzungen des Zentralen Statistikbüros ein Drittel der Bevölkerung ausmachen.
Auch aus dem rechten Lager gibt es allerdings kritische Stimmen zur Reform. Einige liberale, rechtsgesinnte Israelis, die sich zwar Änderungen des Justizsystems wünschen, finden, dass die aktuellen Pläne zu weit gehen und zu kompromisslos durchgepeitscht werden. Es handle sich dabei aber um rechte Stimmen außerhalb der Regierungskoalition, betont Verfassungsrechtler Medina.
Der frühere Präsident Reuven Rivlin nannte einst neben den säkularen, ultraorthodoxen und national-religiösen Juden noch einen vierten Stamm, auf dem die Gesellschaft Israels fußt: die Araber.
Wie stehen die einzelnen Bevölkerungsgruppen zur Reform?
«Sie halten sich aus dem Konflikt weitgehend raus, obwohl sie eigentlich gegen die Reform sind», sagt JPPII-Vizepräsident Friedman. Viele arabische Israelis hätten jedoch das Gefühl, dass die Teilnahme an den Kundgebungen der Reform-Gegner ihren Interessen letztlich schaden könne. Denn einige Gruppierungen innerhalb der Protestbewegung seien aus ihrer Sicht keine Unterstützer der palästinensischen Sache, betont der Experte. Dazu zählt er etwa die Reservisten der Armee, die ein aktiver Teil der Massendemonstrationen sind. Das israelische Militär sichert unter anderem israelische Siedlungen im besetzen Westjordanland. Die Palästinenser beanspruchen das Gebiet jedoch als Teil eines eigenen Staats. Auch das Zeigen der israelischen Nationalflagge auf den Protesten schrecke die arabischen Israelis ab, betont Verfassungsrechtler Medina.
Die Verabschiedung eines Kernelements der umstrittenen Justizreform am Montag werde den Riss in der Gesellschaft nun noch weiter vertiefen, vermutet Rechtsprofessor Friedman. «Das wird es sehr schwierig machen, in der Zukunft Kompromisse zu erzielen.»
Viele Israelis beunruhigt die Spaltung der Gesellschaft dabei sehr. Umfragen zufolge fürchten 67 Prozent gar den Ausbruch eines Bürgerkriegs.
«Die Angriffe auf die Demonstranten machen mir Sorgen», sagt Verfassungsrechtler Medina dazu. Erst am Montagabend raste ein Auto in einen Protestzug und verletzte dabei drei Menschen. «So lange die Polizei aber weiterhin die Demonstranten beschützt, ist die Gefahr für den Ausbruch eines Bürgerkriegs erst einmal gering.» In den kommenden Monaten könne das Risiko aber steigen: Dann müssen sich Sicherheitskräfte im Land laut Medina womöglich entscheiden, wen sie schützen wollen - die Regierung oder das Oberste Gericht.
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