Gleicher und verschieden: Deutschland im Jahr 33 der Einheit
Erfolgsgeschichte oder Trauerspiel? Beim Stand der Deutschen Einheit zählt wohl der Blickwinkel. In seinem heute veröffentlichten Jahresbericht feiert der Ostbeauftragte Carsten Schneider die Fortschritte, darunter die Angleichung der Rentenwerte in Ost und West und die Erhöhung des Mindestlohns, der vielen im Osten zugute kommt. Andererseits bleibt viel Ungleichheit, auch 33 Jahre nach der Vereinigung. Und einiger Missmut.
Zu den Problemen komme er gleich noch, sagte Schneider bei seiner Pressekonferenz in Berlin. Doch schickte der SPD-Politiker noch einmal voraus, was für ein «unfassbarer Gewinn» die deutsche Vereinigung gewesen sei. Und ganz persönlich: «Ich wüsste nicht, wo ich gelandet wäre, wenn die Deutsche Einheit nicht gekommen wäre», sagte der 47-jährige Thüringer. Man vergesse das ja leicht in den Irrungen und Wirrungen des Alltags.
Doch trägt der Rückblick auf den historisch phänomenalen Moment der friedlichen Revolution und der Vereinigung längst nicht mehr alle. In einer aktuelle Infratest-Umfrage für die ARD-Sendung «Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen» waren 57 Prozent der rund 1300 Befragten bundesweit der Auffassung, Ost und West seien seit 1990 weniger stark oder gar nicht zusammengewachsen.
In Ostdeutschland sagten das sogar 62 Prozent. «Die Unterschiede zwischen Ost und West sind wie einbetoniert», beklagte auch Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch und schrieb der Ampel ein «mangelhaft» ins Zeugnis. Auch der CDU-Ostbeauftragte Sepp Müller sah «falsche Akzente».
Niedrigere Löhne regen auf - die Bedingungen ändern sich
Ein Aufreger bleibt, dass im Osten im Durchschnitt der Verdienst immer noch niedriger ist als im Westen. Nach Daten aus dem Jahresbericht lag der durchschnittliche Jahresbruttolohn im Osten im Jahr 2022 mit 34.841 Euro etwa 86 Prozent des Westniveaus. Zugleich ist die Wirtschaftskraft je Einwohner geringer: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt bei 79 Prozent des Wertes im Westen.
Doch ändern sich die Bedingungen. «Die ostdeutsche Industrie hat sich in den vergangenen Jahren erfolgreich neu aufgestellt», heißt es in Schneiders Bericht. «Eine moderne industrielle Basis mit neuen Ansiedlungen und Arbeitsplätzen ist entstanden.»
Dazu zählen laut Schneider kleine und mittlere Unternehmen, aber auch internationale Schwergewichte wie der US-Chiphersteller Intel mit seinem geplanten Werk bei Magdeburg und Tesla in Brandenburg. «Grundsätzlich hat sich der Arbeitsmarkt komplett verändert», sagte Schneider. Fachkräfte sind heute auch in den östlichen Bundesländern schwer gefragt, und man bekommt sie nicht mehr so billig wie vor Jahren.
Die große Abwanderung ist vorbei
Fachkräftemangel ist nur ein Splitter des großen Themas Demografie. «Während 1990 die Bevölkerung im Osten im Schnitt jünger als im Westen war, hat sich dieses Verhältnis mittlerweile umgekehrt», heißt es im Bericht. 2021 waren im Osten 17 Prozent der Menschen jünger als 20 Jahre, im Westen fast 19 Prozent. Über 65 Jahre alt waren im Osten 27 Prozent, im Westen 22 Prozent.
Immerhin, die große Welle der Abwanderung von Ost nach West hat sich gedreht. «Im Zeitraum 2017 bis 2021 verzeichnen die ostdeutschen Bundesländer leichte Binnenwanderungsgewinne», heißt es im Bericht. Unterm Strich blieb 2021 trotzdem ein Minus für die ostdeutschen Länder, ein sogenannter Wanderungsverlust von 1,2 Millionen Menschen. «Eine Generation ist quasi weg», sagte Schneider.
Aus dem Ausland kamen bisher relativ wenige: In den fünf ostdeutschen Flächenländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen lag der Anteil der Zuwanderer unter zehn Prozent - im Vergleich zu 24,3 Prozent bundesweit.
Viele Ostdeutsche auf dem Land
Krasse Unterschiede gibt es zudem bei der Verteilung der Bewohner auf Stadt und Land. Im Osten leben nach Schneiders Daten rund 55 Prozent der Menschen in ländlichen Regionen, im Westen 26 Prozent. Weil Jüngere wegzogen, ist der Anteil älterer Menschen in kleineren Gemeinden im Osten höher und der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter geringer - geringer als im Westen in Stadt und Land und auch geringer als in ostdeutschen Städten.
Schneider ließ für den Bericht in einem «Deutschlandmonitor» umfangreiche Daten erheben, um nicht nur Ost-West-Unterschiede, sondern auch das Stadt-Land-Gefälle zu beleuchten. Die Ergebnisse des Politikwissenschaftlers Everhard Holtmann blieben allerdings blass. Das Wichtigste: Die allermeisten in Stadt und Land sind mit ihrem Lebensumfeld zufrieden, jeder Fünfte nicht.
Wo der Osten Spitze ist
Das Lohngefälle zwischen Frau und Mann ist im Osten geringer, zumindest beim Vergleich des durchschnittlichen Stundenlohns: Im Westen lag diese «unbereinigte Gender Pay Gap» zwischen Männern und Frauen bei 19 Prozent, im Osten nur bei 7 Prozent. Mütter mit kleinen Kindern sind im Osten häufiger im Job als im Westen (48,8 Prozent zu 37,8 Prozent). Mehr Unter-Dreijährige sind in der Kita. Und: Männer helfen Studien zufolge im Osten mehr bei privaten Aufgaben als im Westen. Zudem gibt es im Osten mehr Klinikbetten je 100.000 Einwohner, obwohl die Zahl der Kliniken geringer ist. Auch Wohnungen sind im Osten oft leichter zu finden zu und zu finanzieren, wie Holtmann sagte.
Wo der Osten anders ist
Der Rückhalt für den ökologischen Umbau der Wirtschaft ist laut Bericht in Ostdeutschland schwächer als im Westen. «56 Prozent der Befragten in Westdeutschland sind 'sehr dafür', in Ostdeutschland sind es 37 Prozent.» Auch bei den Angaben zum persönlichen Verhalten - etwa dem Verzicht auf Flugreisen zugunsten des Klimas, beim Bezug von Ökostrom oder bei Spenden und Engagement für Naturschutzgruppen - liegen die Umfragewerte im Osten allesamt deutlich hinter denen im Westen. Von den westdeutschen Befragten gaben 12 Prozent an, Vegetarier zu sein. Im Osten waren es vier Prozent.
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