Ein ukrainischer Soldat lädt eine Bombe auf eine Drohne., © LIBKOS/AP
Ein ukrainischer Soldat lädt eine Bombe auf eine Drohne. LIBKOS/AP, dpa
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Erfolg der ukrainischen Offensive - Eine Frage der Reserven

05.09.2023

Nach mehr als drei Monate langen Kämpfen haben sich die ukrainischen Truppen im Süden des Landes durch die erste und angeblich am stärksten mit Minenfeldern, Gräben und Feuernestern befestigte Verteidigungslinie der Russen gekämpft.

Nach US-Generalstabschef Mark Milley verkündete den Durchbruch am Samstag auch der Kommandierende des entscheidenden Frontabschnitts, Olexander Tarnawskyj. Einzelne Frontberichte sprechen von einer schweren Lage für Moskau. Nun soll sich Russland Medienberichten zufolge sogar in Gesprächen mit dem sonst international isolierten Nordkorea um Nachschub an Waffen und Munition bemühen; der Kreml schweigt dazu.

Mehr als 80 Kilometer bis zur Küste

Seit dem Hissen der ukrainischen Flagge im Dorf Robotyne pünktlich zum Unabhängigkeitstag am 24. August ist es freilich auch für Kiews Truppen kaum vorangegangen. Die Kämpfe sollen sich den wenigen verfügbaren Informationen zufolge nun auf den Abschnitt zwischen Robotyne und dem wenige Kilometer östlich davon gelegenen Dorf Werbowe konzentrieren.

Die erste Stadt in dem Bereich, Tokmak, liegt immer noch in gut 20 Kilometern Entfernung, ganz zu schweigen von den über 80 Kilometern bis zur Küste des Asowschen Meeres. Mit einem Vormarsch bis ans Meer hofft Kiew, Moskau die Landverbindung zur seit bereits 2014 besetzten Schwarzmeer-Halbinsel Krim zu verwehren.

Kommandeur Tarnawskyj zufolge gehen Kiews Kämpfer erfolgreich gegen Moskaus Militär vor. «Im Zentrum der Offensive schließen wir jetzt die Zerstörung der feindlichen Einheiten ab, die den Rückzug der russischen Truppen hinter ihre zweite Verteidigungslinie decken», zitierte der britische «Guardian» den General.

Moskau sei daher gezwungen, Reserven selbst aus Russland an die brüchigen Frontabschnitte zu verlegen. «Früher oder später werden den Russen die besten Soldaten ausgehen», betonte Tarnawskyj. Damit könne die ukrainische Armee nach ihrem bisher bescheidenen Vorrücken südlich von Orichiw in eine Tiefe und Breite von etwa zehn Kilometern nun «öfter und schneller» angreifen.

Das US-Institut for the Study of the War (ISW) ist zurückhaltender bei seiner Lagebewertung. Zwar habe die leichte Infanterie die Panzerwälle überwunden, doch so lange noch kein schweres Gerät in der Gegend sei, wollen die Experten nicht von Durchbruch sprechen.

Hohe Verluste

Zudem wurde der geringe Raumgewinn mit hohen Verlusten erkauft, wie selbst Tarnawskyj einräumte. «Je näher der Sieg rückt, um so härter wird es. Warum? Weil wir leider die stärksten und besten (Soldaten) verlieren», sagte der Brigadegeneral.

Wie viele der ursprünglich für die Offensive ausgebildeten zwölf Brigaden mit geschätzt 60.000 Mann noch kampffähig sind, bleibt dabei unbekannt. In einem Frontbericht ist von 25 Prozent Ausfällen bei einem der Sturmbataillone die Rede. Es ist möglich, dass dies auch auf andere Truppenteile zutrifft.

Dabei ist die Anzahl der Reserven nach Ansicht von Franz-Stefan Gady, einem Analysten am Institute for International Studies in London, für den weiteren Verlauf der ukrainischen Offensive entscheidend. Russlands Verteidigungslinie sei nie dazu gedacht gewesen, die ukrainischen Truppen zu stoppen, sondern sie abzunutzen, schrieb der Experte im sozialen Netzwerk X (vormals Twitter). «Die Frage war immer..., ob die Ukraine noch genügend Reserven haben wird, um in den Bewegungskrieg überzugehen und tief in den Raum zu stoßen.»

Um die Verluste zukünftig auszugleichen, erweiterte Kiew kürzlich den Kreis der Wehrtauglichen um Hepatitis- und HIV-Infizierte sowie Männer mit leichten psychischen und neurotischen Störungen. Andere Gruppen wie Studenten über 30 sollen demnächst hinzukommen.

Putin: Offensive ist gescheitert

Glaubt man den russischen offiziellen Verlautbarungen, so hat Kiew bereits verloren. Einen Durchbruch bestreitet Moskau. Präsident Wladimir Putin nannte die Offensive am Montag beim Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan gescheitert.

Sein Verteidigungsminister Sergej Schoigu legte mit der Nennung von extrem hohen Opferzahlen auf ukrainischer Seite nach. Demnach haben die Truppen Kiews seit Beginn ihrer Offensive bereits mehr als 66.000 Soldaten und über 7600 Waffensysteme eingebüßt. Auch die Ukraine spricht regelmäßig von großen Verlusten des Gegners. Die Angaben können meist nicht unabhängig überprüft werden.

Wladimir Rogow, der Sprecher der von Moskau eingesetzten Verwaltung in Saporischschja, behauptete, die Ukrainer säßen in Robotyne in einer Feuerfalle und würden dort von drei Seiten beschossen und damit zermalmt. Das russische Militär ist allerdings in der Vergangenheit schon mehrfach mit geschönten Lageberichten aufgefallen.

Frontberichte zeugen davon, dass die Lage für Moskau schwierig ist. So klagen Feldkommandeure zunehmend über Munitionsmangel und ein zunehmendes Ungleichgewicht bei der Artillerie zugunsten der Ukraine, obwohl zu Beginn des Kriegs Russland hier ein Übergewicht hatte.

Waffendeal mit Nordkorea?

Medienberichten zufolge soll nun Russland bei Nordkorea um Waffen- und Munitionshilfe bitten. Nordkoreas Staatschef Kim Jong Un wird bei einem Wirtschaftsforum in Russlands fernem Osten erwartet, wo er Putin zu Gesprächen darüber treffen soll. Kremlsprecher Dmitri Peskow wollte am Dienstag ein mögliches Treffen nicht kommentieren.

Die USA gehen davon aus, dass Nordkorea erhebliche Mengen an Munition liefern könnte. In den vergangenen Wochen berichteten die staatlich kontrollierten Medien in Nordkorea mehrfach, dass der Machthaber Waffen- und Munitionsfabriken besucht habe. Dabei forderte er, die einheimische Produktion deutlich zu steigern.

Dies wurde in Südkorea zwar auch als Demonstration der Stärke angesichts steigender Spannungen auf der koreanischen Halbinsel gewertet. Doch zugleich wollte Kim nach Einschätzung von Beobachtern in Seoul auch zeigen, dass das Land neben der eigenen Versorgung auch imstande ist, jederzeit Munition zu exportieren. Nordkorea könne «mit Ausnahme von Kampfflugzeugen wahrscheinlich größere Waffensysteme und Munition im Inland herstellen», mutmaßt man dort zudem.

Für eine maßgebliche Beeinflussung der aktuellen Entwicklung an der Front dürften diese Lieferungen aber zu spät kommen. So könnte ein anderer Faktor in den nächsten Wochen entscheidend werden: Die Überlebensdauer der unteren Kommandoebene.

«Erzählungen unserer Propaganda darüber, wie «Ukrops» (Schimpfwort für Ukrainer) in Mengen vernichtet werden, weil sie blöd nach Robotyne drängen, sind natürlich wunderschön, aber in der Realität tragen beide Seiten an der gesamten Front derzeit etwa gleich hohe Verluste - und das ist sehr traurig für uns», schrieb der für Moskau kämpfende Nationalist Andrej Morosow auf seinem Telegram-Kanal.

Problematisch sei dabei, dass auf russischer Seite dabei auch viele Kommandeure der unteren und mittleren Befehlsebene ausfielen, während die Ukraine ihre Kompaniechefs- und Zugführer besser schütze. Dies habe zur Folge, dass die Ukrainer von erfahrenen Anführern angeleitet würden, während die Russen ihre erfahrensten Leute immer wieder verlören. Neben dem Nachteil bei den Artillerieduellen führe dies zu potenziell immer höheren Verlusten, warnte Morosow.

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