«Ein ganzes Leben»: Der Berg, der Mensch und der Tod
Andreas Egger ist ein fleißiger, stiller Mann. Als Hilfsarbeiter in einem österreichischen Tal ackert er wie ein Ochse, reden möchte er selten. Schon als kleiner Junge hat Egger gelernt, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Für den kleinsten Grund, manchmal auch gänzlich ohne Anlass, hat ihn sein Ziehvater verprügelt. Einmal zerschmetterte die Gerte sein Bein, jetzt hinkt Egger. Und beklagt sich trotzdem nicht: «Am Berg bin ich der Einzige, der gerade geht», sagt er.
Eggers Geschichte ist die eines Jedermanns, der der Welt um ihn herum schonungslos ausgesetzt ist. Über knapp 80 Jahre hinweg erlebt er, wie sich der Alltag in seinem Bergdorf verändert. Als kleiner Junge um 1900 herum ist das Leben in den Alpen von Beschwerlichkeit geprägt. Eine Firma baut schließlich die erste Seilbahn und bringt Elektrizität ins Dorf. Irgendwann kommen die Nationalsozialisten. Und nochmal einige Jahre später die Touristen.
Diese vielen Stücke Zeitgeschichte hat Robert Seethaler in seinem Roman «Ein ganzes Leben» auf unter 200 Seiten kondensiert. Regisseur Hans Steinbichler hat die Geschichte nun vor gewaltigem Bergpanorama verfilmt.
Ein Junge wird zum Mann
Wie die Buchvorlage ist auch der gleichnamige Film größtenteils chronologisch erzählt. Wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer Egger beim Leben zusehen, dann folgen sie deshalb auf der Leinwand nacheinander drei verschiedenen Darstellern. Kinderschauspieler Ivan Gustafik, der in dem Drama sein Debüt gibt, spielt den Waisenjungen in seinen Jahren auf dem Hof des Bauern Kranzstocker. Ein erster Zeitsprung, und Egger ist ein junger Mann geworden, gespielt von Stefan Gorski («Contra»). Den alten Egger verkörpert mit stoischer Ruhe, und einem Hauch kindlicher Verletzlichkeit, August Zirner («Die Fälscher», «Colonia Dignidad»).
Da die Figur so wortkarg ist, kommt ihrer Mimik und Gestik besondere Aufmerksamkeit zu. Während Zirners gealterter Egger ein bedächtiger Mensch ist, lässt Gorski den Arbeiter viele Emotionen durchleben. Darunter auch: die Liebe. Ein zartes Gefühl, mit dem sich der kräftige Egger schwertut.
So fällt auch der erste Kuss mit seiner großen Liebe Marie (Julia Franz Richter) etwas grob aus. Auf einer gemeinsamen Wanderung lächeln sie einander an, als Egger plötzlich seufzt: «Jetzt halt ich's nicht mehr aus», ihr Gesicht in beide Hände nimmt und ihr einen langen Kuss auf die Lippen drückt. Nach einer Weile windet sich Marie aus seinem Griff, erschrocken über seine Kraft. Doch seine Stärke gefällt ihr auch. Mit Marie beginnt für Egger die wohl glücklichste Zeit seines Lebens.
Imposante Naturaufnahmen
Das weitere Ensemble ist klein. Einige wiederkehrende Figuren, wie der Wirt und der Pfarrer, bleiben über 116 Minuten namenlos. Überhaupt scheint die wichtigste Rolle neben Egger selbst dem Berg zuzukommen. Gedreht wurde in Osttirol, Südtirol und Bayern. Die Naturaufnahmen in dem Film sind mächtig und drücken die Emotionen aus, die die Figuren oft kaum in Worte fassen können.
Der Berg bestimmt auch die Farben des Films: Im Winter sind alle Szenen in bläuliches Licht getaucht. Im Frühling und Sommer zeigt Armin Franzens Kamera kräftiges Grün und Gold, wogende Almwiesen und Weite. Im Herbst wiederum ist alles braun: die Wege, die Bäume, die schmutzigen Gesichter der Dorfbewohner. Klein und verletzlich bewegen sie sich in der imposanten Kulisse.
Und dann wäre da noch der Tod. Steinbichler zeigt in dem rauen Alpen-Drama zwar mitunter viel Grausamkeit, der Tod kommt aber oft als Schlaf und kaum als Gräuel daher. Als Egger in den Zweiten Weltkrieg zieht, sind keine Toten zu sehen.
Zuhause im Dorf bilden die wiederkehrenden Todesfälle und Beerdigungen eine Konstante für die Dorfbewohner - trotz aller Veränderungen bleibt das Sterben stets Teil ihres Lebens. «Dem Tod rennt man nicht davon», stellt Egger schon als junger Mann fest. Und schließt im hohen Alter Frieden mit ihm.
Ein ganzes Leben, Österreich/Deutschland 2023, 116 Min., FSK: ab 12, von Hans Steinbichler, mit Stefan Gorski, August Zirner, Julia Franz Richter
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